Die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen ist verfassungswidrig, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab 2014 ein Zinssatz von monatlich 0,5% zugrunde gelegt wird. Der typisierte Zinssatz von jährlich 6% sei spätestens seit dem Jahr 2014 „evident realitätsfern“, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Denn nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 habe sich ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt. Laut BVerfG bleibt das bisherige Recht für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar, danach nicht mehr. Bis Ende Juli 2022 muss der Gesetzgeber eine verfassungsgemäße Neuregelung treffen.
Grundsatz der Vollverzinsung
§ 233a AO regelt die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Die Verzinsung betrifft den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung (Grundsatz der Vollverzinsung). Der Zinslauf beginnt allerdings nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten. Von der Vollverzinsung betroffen sind damit lediglich diejenigen Steuerpflichtigen, deren Steuer erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums nach der Entstehung des Steueranspruchs erstmalig festgesetzt oder geändert wird.
Wirkung zugunsten und zuungunsten der Steuerpflichtigen
Praktisch bedeutsam sind laut BVerfG insoweit insbesondere (geänderte) Steuerfestsetzungen nach einer Außenprüfung. Die Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 AO für jeden vollen Monat des Zinslaufs 0,5%, mithin 6% jährlich. Von der Verzinsung erfasst werden nur die in § 233a Abs. 1 Satz 1 AO abschließend aufgezählten Steuerarten der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Vermögensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer. Die Vollverzinsung wirkt sowohl zugunsten (im Fall der Steuererstattung) als auch zuungunsten (im Fall der Steuernachforderung) der Steuerpflichtigen. Die Gründe für eine späte Steuerfestsetzung und insbesondere, ob die Steuerpflichtigen oder die Behörde hieran ein Verschulden trifft, sind für die Verzinsung unerheblich.
Festsetzung von Nachzahlungszinsen angegriffen
Die Verfassungsbeschwerden haben die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO auf Gewerbesteuer nach einer Außenprüfung zum Gegenstand. Die Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen die die Verzinsung bestätigenden fachgerichtlichen Urteile. Mittelbar wenden sie sich gegen § 233a AO, soweit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO bei der Zinsberechnung Anwendung findet. Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung ist ein Verzinsungszeitraum vom 01.01.2010 bis zum 14.07.2014.
BVerfG bejaht Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen
Das BVerfG stellt klar, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen nach § 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ursprünglich verfassungsgemäß war. Die Regelung sei jedoch nicht mehr mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, soweit der Zinsberechnung für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume ein Zinssatz von monatlich 0,5% zugrunde gelegt werde. Denn nach geltendem Recht würden Steuerpflichtige, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuerpflichtigen, deren Steuer innerhalb der Karenzzeit festgesetzt wird, ungleich behandelt. Nur erstere seien zinszahlungspflichtig.
Strengere Verhältnismäßigkeitsanforderungen zu stellen
Die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung bemesse sich nach strengeren Verhältnismäßigkeitsanforderungen, so die Karlsruher Richter. Der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verbiete dem Gesetzgeber dabei nicht jede Differenzierung. Diese bedürfe jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergäben sich unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen könnten.
Betroffene Freiheitsrechte zu berücksichtigen
Eine strengere Bindung des Gesetzgebers könne sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärften sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für Einzelne verfügbar seien. Dieser allgemeine gleichheitsrechtliche Maßstab finde auch bei der Auswahl des Zinsgegenstands (Vollverzinsung nach § 233a AO) und der Bestimmung des Zinssatzes (§ 238 AO) Anwendung, so das BVerfG.
Finanzverwaltung entscheidet über Steuerfestsetzungszeitpunkt
Nach diesen Grundsätzen seien hier strengere Verhältnismäßigkeitsanforderungen zu stellen. Zwar berühre die Vollverzinsung zulasten der Steuerpflichtigen nach den §§ 233a, 238 AO im Wesentlichen nur die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Die Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 GG sei hingegen von vornherein nicht betroffen, weil die Auferlegung einer Zinszahlungspflicht die Vermögensverhältnisse der Betroffenen nicht so grundlegend beeinträchtige, dass sie eine erdrosselnde Wirkung entfalte. Allerdings seien der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung und damit das Überschreiten der Karenzzeit für die einzelnen Steuerpflichtigen weitestgehend nicht verfügbar. Es liege letztlich in der Sphäre der Finanzverwaltung beziehungsweise – im Fall der Gewerbesteuer – in der Regel zusätzlich in der Sphäre der Gemeinden, wann die Steuer festgesetzt wird.
Zweck der Vollverzinsung legitim
§ 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO habe anfänglich den hier anzuwendenden strengeren Rechtfertigungsanforderungen genügt und sei verfassungsgemäß gewesen, so das BVerfG. Denn das Ziel der Vollverzinsung, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden, sei legitim. Der Verzinsung der Steuernachforderungen liege die Annahme zugrunde, dass Steuerschuldner, deren Steuer erst spät festgesetzt wird, einen fiktiven Zinsvorteil haben. Zweck der Vollverzinsung sei somit die Abschöpfung dieses Zinsvorteils. Die Vollverzinsung als solche sei auch geeignet, die Erreichung dieses Ziels zu fördern. Dies gelte grundsätzlich auch unter Berücksichtigung der Höhe des Zinssatzes, da jedenfalls bis in das Jahr 2014 noch regelmäßig Habenzinsen erzielt werden konnten.
Vollverzinsungsregelung auch erforderlich
Die Vollverzinsung ist laut BVerfG als solche auch erforderlich. Weder die Abschöpfung des tatsächlich erzielten Liquiditätsvorteils der Steuerpflichtigen noch eine Ausgestaltung der Vollverzinsung dahingehend, dass Nachzahlungszinsen nur bei einer von den Steuerpflichtigen selbst verursachten späten Steuerfestsetzung erhoben werden, seien zur Erreichung des Differenzierungszwecks in gleicher Weise geeignet. Auch soweit die Vollverzinsung an einen starren Zinssatz anknüpft, begegne ihre Erforderlichkeit keinen Bedenken. Ein variabler Zinssatz bewirke nicht per se eine geringere Ungleichheit als ein starrer.
Höhe des Zinssatzes verfassungswidrig
Hingegen erweise sich die Vollverzinsung mit einem Zinssatz von 0,5% pro Monat für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume als nicht mehr erforderlich und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, so das BVerfG. Zwar sei der Gesetzgeber dem Grunde nach berechtigt, den durch eine späte Steuerfestsetzung erzielten Zinsvorteil der Steuerpflichtigen zum Zweck der Verwaltungsvereinfachung typisierend zu bestimmen. Allerdings dürfe er keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern müsse bei seiner Maßstabsbildung realitätsgerecht den typischen Fall zugrunde legen.
Gesamtschau der erkennbaren Motive notwendig
Da der Gesetzgeber die Höhe des gewählten Zinses zu keiner Zeit ausdrücklich begründet habe, sei eine Gesamtschau der erkennbaren Motive und Erwägungen erforderlich, um die zumindest vermutlich leitenden Kriterien bei der Bemessung des Zinssatzes zu bestimmen. Dem Vorteilsausgleich durch eine Vollverzinsung im Nachzahlungsfall liege die Annahme des Gesetzgebers zugrunde, dass es sich bei dem abzuschöpfenden Vorteil um einen potentiell entstehenden Zinsvorteil handele. Zur Bestimmung dieses Zinsvorteils mit monatlich 0,5% habe der Gesetzgeber im Jahr 1990 an den bereits für die bisherigen Verzinsungstatbestände der Abgabenordnung geltenden § 238 AO angeknüpft. Dies habe er allein mit der Praktikabilität des vorgefundenen festen Zinssatzes begründet. Erkennbar seien aber auch Bezüge zum damaligen Diskontsatz, der durch den heutigen Basiszinssatz abgelöst wurde. Im Blick habe der Gesetzgeber offenbar weiterhin den Marktzins und einen Gleichlauf der Höhe von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen gehabt. Diese vom Gesetzgeber bei der Bemessung des Zinssatzes als maßstabsbildend zugrunde gelegten Kriterien seien in ihrer Gesamtheit sachgerecht, um den potentiell entstehenden Vorteil einer späten Steuerfestsetzung abzubilden.
Zinssatz von 6% war zunächst realitätsnah
Die Vollverzinsung zulasten der Steuerpflichtigen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5% (6% pro Jahr) war danach laut BVerfG zunächst verfassungsgemäß. Die Annahme des Gesetzgebers, dass dieser Zinssatz den durch eine späte Steuerfestsetzung potentiell entstehenden Vorteil abbildet, habe im Jahr der Verabschiedung des Steuerreformgesetzes 1990 zugetroffen, mit dem die Vollverzinsung in die Abgabenordnung eingeführt wurde. Der Zinssatz habe mit jährlichen Zinsen von 6% in etwa den insoweit maßstabsrelevanten Verhältnissen am Geld- und Kapitalmarkt entsprochen.
Finanzkrise führte zu strukturellem Niedrigzinsniveau
Die Verzinsung mit einem Zinssatz von monatlich 0,5% sei trotz der grundsätzlichen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers aber dann nicht mehr zu rechtfertigen, wenn sich der typisiert festgelegte Zinssatz im Laufe der Zeit unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als evident realitätsfern erweise, was spätestens seit dem Jahr 2014 der Fall sei. Denn nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 habe sich ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen sei. Dies zeige sich zunächst in der Entwicklung des Basiszinssatzes. Während er im Jahr 2008 noch bei über 3% gelegen habe, sei er im Laufe des Jahres 2009 rapide auf 0,12% gesunken. Seit Januar 2013 liege er im negativen Bereich. Vor dem Hintergrund, dass sich der Diskontsatz in den 50 Jahren seines Bestehens zwischen 2,5% und 8,75% und der Basiszinssatz sich vor 2009 zwischen 1,13% und 3,32% bewegt hat, zeige diese Entwicklung ein Niedrigzinsniveau auf, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen, sondern spätestens seit 2014 struktureller und nachhaltiger Natur ist.
6%iger Zinssatz seit 2014 „evident realitätsfern“
So zeige die Entwicklung der Zinsen am Kapitalmarkt einen entsprechenden Trend auf. Im Jahr 2014 habe sich der jährlich 6%ige Zinssatz bereits so weit vom tatsächlichen Marktzinsniveau entfernt, dass er schon in etwa das Doppelte des höchsten überhaupt noch erzielbaren Habenzinssatzes ausgemacht habe. Die maßstabsbildend zu berücksichtigenden Kreditzinssätze seien ebenfalls dem zuvor aufgezeigten Abwärtstrend gefolgt. Der typisierte Zinssatz von jährlich 6% erweise sich daher unter den nach Ausbruch der Finanzkrise veränderten tatsächlichen Bedingungen spätestens seit 2014 als evident realitätsfern. Er sei in dem sich verfestigenden Niedrigzinsniveau offensichtlich nicht mehr in der Lage, den durch eine späte Heranziehung zur Steuer entstehenden potentiellen Vorteil hinreichend abzubilden. Mit ihrer Anknüpfung an einem jährlichen Zinssatz von 6% entfalte die Vollverzinsung damit spätestens für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume im Regelfall eine überschießende Wirkung und sei insofern verfassungswidrig geworden.
Zinssatz für Zeiträume bis 2013 noch verfassungsgemäß
Für bis in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume sei der gesetzliche Zinssatz zwar zunehmend weniger in der Lage gewesen, den Erhebungszweck der Nachzahlungszinsen abzubilden. Die Vollverzinsung habe insoweit jedoch noch keine evident überschießende Wirkung entfaltet, so die Verfassungsrichter. Sie sei auch nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne gewesen. Ein verfassungsrechtlich auffälliges Missverhältnis habe insoweit noch nicht bestanden. Auch das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Übermaßverbot sei insofern nicht verletzt. Die Vorteile des typisiert bestimmten starren Zinssatzes in der Verwaltungspraxis stünden noch in einem rechten Verhältnis zu der damit verbundenen Ungleichbehandlung der zinszahlungspflichtigen Steuerschuldner. Das Niedrigzinsniveau habe sich bis 2013 noch nicht derart verfestigt gehabt, dass der gesetzlich bestimmte Zinssatz als im Regelfall evident realitätsfern erscheint.
Verfassungsbeschwerden nur teilweise begründet
Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 2237/14 war laut BVerfG somit unbegründet. Denn sie betreffe eine Zinsfestsetzung für den Zeitraum von 2010 bis 2012. Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR2422/17 sei nur insoweit begründet, als sie den Verzinsungszeitraum vom 01.01.2014 bis 14.07.2014 betrifft. Insoweit verletze die Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Zudem erklärte das BVerfG im Ergebnis § 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für umfassend und für alle Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 als mit dem Grundgesetz unvereinbar.
Auch Erstattungszinsen erfasst
Aufgrund des einheitlichen Regelungskonzepts des Gesetzgebers beschränke sich die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO nicht nur auf Nachzahlungszinsen zulasten der Steuerpflichtigen, sondern umfasse ebenso die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen.
Unanwendbarkeit für Verzinsungszeiträume ab 2019
Für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 gelte § 233a AO jedoch fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen. Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume bleibe es hingegen bei der Unanwendbarkeit der Vorschrift. Insoweit sei der Gesetzgeber verpflichtet, eine Neuregelung bis zum 31.07.2022 zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 erstrecke und alle noch nicht bestandskräftigen Hoheitsakte erfasse.
BVerfG, Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14; 1 BvR 2422/17
nach Redaktion beck-aktuell, 18. Aug 2021.