Arbeitgeber müssen Arbeitszeit kontrollieren und erfassen

Über­ra­schend hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt heute ent­schie­den: Un­ter­neh­men müs­sen die Ar­beits­zeit ihrer Be­schäf­tig­ten sys­te­ma­tisch er­fas­sen. Das er­ge­be sich aus einem Ur­teil des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs von 2019, sagte Ge­richts­prä­si­den­tin Inken Gall­ner. Mit einer solch weit­rei­chen­den Ent­schei­dung hatte kaum je­mand ge­rech­net – vor­der­grün­dig ging es in dem Rechts­streit nur darum, wie weit die Mit­be­stim­mungs­rech­te eines Be­triebs­rats rei­chen. 

Ungewöhnliche Frontstellung

Eigentlich würde man ja denken, dass Betriebsräte die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung skeptisch sehen – erweitert sie doch die Kontrolle der Arbeitnehmer. Doch heute befand das BAG über eine genau entgegengesetzte Klage: Eine Belegschaftsvertretung kämpft für die Einführung ­einer digitalen Stechuhr. Arbeitgeber ist eine von zwei Unternehmen gemeinsam betriebene vollstationäre Wohneinrichtung im Rahmen der Eingliederungshilfe mit rund 100 Beschäftigten. Die beiden hatten bereits die Lesegeräte für eine solche Vorrichtung angeschafft, die Einführung aber aufgegeben, als Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung scheiterten. Doch der Betriebsrat wünscht sich die Neuerung und erreichte in zwei Instanzen die Einsetzung einer Einigungsstelle. Dort machten die Arbeitgeberinnen jedoch deren Unzuständigkeit geltend: Der Gegenseite fehle das Initiativrecht für die Einführung einer solchen technischen Einrichtung. Woraufhin das Kompromissgremium seine Arbeit aussetzte und der Betriebsrat (abermals) vor Gericht zog, um sich die Kompetenz für seinen Vorstoß bescheinigen zu lassen.

Unbezahlte Überstunden, Verletzung von Ruhepausen

Sein Argument: Auch die Beschäftigten könnten ein ­Interesse an der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung und von „mehr Kontrolle“ haben, gerade wenn es um die genaue Dokumentation von Arbeitszeit und Überstunden gehe. Schließlich gebe es andere schützenswerte Rechte, die den Persönlichkeitsschutz überwiegen könnten. Gefahren in der Praxis wie unbezahlten Überstunden, Verletzung von Ruhepausen oder Kappung von Arbeitszeitguthaben könne nur entgegen­gewirkt werden, wenn ein objektives System etabliert würde – weshalb Arbeitgeber dies oft verhindern wollten. Die beiden Unternehmen konterten, das Mitbestimmungsrecht bei Einführung technischer Kontrolleinrichtungen nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG sei ein reines Abwehrrecht zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter. Ergo könne deren Interessenvertretung nicht die Initiative ergreifen, damit eine solche eingeführt wird. Während das ArbG Minden dem folgte, stellte sich das LAG Hamm auf die Seite der Belegschaftsvertreter: Der Gesetzgeber habe in sozialen Angelegenheiten bewusst nicht zwischen Mitbestimmungsrechten mit deren Initiativrecht und solchen unterschieden, bei denen dieses nur beim Arbeitgeber liege. Dem steht aus Sicht der Richter in Hamm nicht entgegen, dass das BAG anno 1989 noch gegenteilig entschieden hatte. Auf das EuGH-Urteil von 2019, wonach Arbeitszeiten durch ein elektronisches System erfasst werden müssten, komme es somit nicht weiter an.

Arbeitsschutzgesetz europakonform ausgelegt

Doch genau das sah nun der 1. Senat in Erfurt unter Vorsitz von Gerichtspräsidentin Inken Gallner ganz anders. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz sei der Arbeitgeber ohnehin verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Damit knüpften die obersten Arbeitsrichter an den Spruch ihrer Luxemburger Kollegen an. Die deutsche Vorschrift lautet in ihrem Kontext: „(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben. (2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten 1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie 2. Vorkehrungen zu treffen, dass die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können.“

Viele hielten ein neues Gesetz für nötig

Unter Arbeitsrechtlern war hingegen bisher ausgesprochen umstritten, ob das Luxemburger Urteil direkt Arbeitgeber binde oder nur die Mitgliedstaaten verpflichte, eine entsprechende Gesetzesregelung zu schaffen. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Fraktionen beschränkt sich insofern lediglich auf den Passus: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen.“ Ein Gesetzentwurf ist aber noch nicht in Sicht – und aus Erfurter Sicht auch nicht mehr unbedingt nötig.

Formal eine Niederlage

Prozesstechnisch hat der Betriebsrat damit allerdings verloren. Aufgrund der gesetzlichen Pflicht im Arbeitsschutzgesetz könne er nämlich die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen, so das BAG. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG bestehe nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist.

 

zu BAG, Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21

übernommen von Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 13. Sep 2022.